Gesundheit gestalten > Lebendiger Rhythmus
aus: momentum 2/2022
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Rhythmus als heilsame Kraft

Reinhard und Anna-Maria Flatischler

Rhythmus ist fester Bestandteil der Musik und allgegenwärtig in der Natur. Jeder biologische Vorgang ist einer gewissen Rhythmizität unterworfen. Körperrhythmen und -zyklen beeinflussen unsere Gesundheit, die Tätigkeit unserer Organe, unseren Stoffwechsel und die Nerven- und Gehirntätigkeit. Die moderne Zivilisation hat es mit sich gebracht, dass viele Menschen gegen ihre „innere Uhr“ leben. Wenn der Schlaf-Wach-Rhythmus mit seinem sonstigen zirkadianischen System verschoben oder gestört ist, laufen einige Körperrhythmen nicht mehr synchron und können bewirken, dass biochemische Stoffe zur falschen Zeit an der falschen Stelle erzeugt werden und für die Entstehung diverser Krankheiten verantwortlich sind. Beobachtungen von Chronoonkologen lassen vermuten, dass ein Zusammenhang zwischen dem Krebsstadium und dem Verlust der Synchronizität körpereigener Rhythmen besteht.

„Die medizinische Grundlagenforschung kann am Beginn des 21. Jahrhunderts […] nachweisen, dass die in fatalen Kaskaden ablaufenden Krankheitsprozesse nur im Vagotonus durchbrochen werden können. Auch die körpereigenen Reparaturvorgänge finden […] nur in den Phasen des Vagotonus statt. Gleichzeitig ist sich die ‚Schulmedizin‘ der Tatsache bewusst, dass durch Medikamente ein natürliches Ausmaß an Vagotonus nur sehr eingeschränkt erzielbar ist. Der Zugang zum autonomen Nervensystem, also der Weg in die Synchronisation des Vegetativums, ist aber sehr wohl mit nichtpharmakologischen Methoden wie Musik, Hypnose, Meditation und – wie es sich zeigt – auch mit TaKeTiNa möglich“.
(Auszug aus: „40 years of music, education, therapy and research – Ärzte erleben und beforschen TaKeTiNa“ von Univ. Prof. Dr. Klaus-Felix Laczika, Musiker und Mediziner, 2010)

Seit Langem wird Musik zur Unterstützung heilender Prozesse eingesetzt, denn Musizieren fördert auf physiologischer Ebene Neuroplastizität und begünstigt das Entwickeln von sensorischen, motorischen und emotionalen Fähigkeiten. Im Rhythmus sein kann Entspannung, Wohlbefinden und Lebensenergie bringen. Rhythmus kann uns zu Höchstleistungen antreiben und balancierend auf Herzschlag, Blutdruck und Atemfrequenz wirken. Studien zeigen, dass Musik in der Lage ist, Ängste und depressive Symptome effektiv zu reduzieren.

Wir stellen hier eine Methode vor, die Rhythmus als zentrales Element nutzt und Menschen durch ihre spezifische Arbeitsweise in tiefe Entwicklungs- und Heilungsprozesse führen kann. TaKeTiNa lässt Teilnehmende eine aktive, ganzkörperliche Rhythmuserfahrung erleben, in der sie durch die Anbindung an ihre musikalischen Wurzeln Kraft, Selbsterkenntnis und Lebensfreude gewinnen.

Die „verkodierte“ Botschaft des individuellen Ausdrucks im Rhythmus, also die Art und Weise, wie jemand Rhythmus „macht“ (z. B. sich anspannen bei empfundener Überforderung oder sich ärgern beim Aus-dem-Rhythmus-Fallen), zeigt, wie Menschen mit sich umgehen. Der Rhythmusprozess bildet in spielerischer Weise alltägliche Verhaltensweisen und behindernde Muster ab, die erkannt und allmählich losgelassen werden können.

TaKeTiNa wird sowohl in der klinischen Therapie als auch in öffentlichen Workshops eingesetzt, meist in Gruppen von 10 bis 100 Teilnehmenden, aber auch im Einzelsetting oder im Selbststudium.

Gleichzeitige Wahrnehmung


TaKeTiNa arbeitet mit der Gleichzeitigkeit verschiedener rhythmischer Bewegungen, die mit Schritten, Klatschen und Stimme aufgebaut werden. Durch diese Gleichzeitigkeit ist eine willentliche, vom Denken ausgehende Kontrolle jeder dieser einzelnen Ebenen unmöglich. Dafür ist es notwendig, die verschiedenen Bewegungen im Körperbewusstsein so zu verankern, dass sie zu autonomen Bewegungen werden und „wie von selbst“ erfolgen können.

Nicht die Koordination verschiedener Rhythmusbewegungen soll also hier trainiert werden, es geht darum, die Fähigkeit zu entwickeln, mit großer Gelassenheit in mehreren Ebenen agieren zu können, ohne sich dabei spalten zu müssen. Anstelle des Entweder-oder tritt ein Sowohl-als-auch. Es entsteht ein Gefühl tiefer innerer Einheit, wenn unterschiedliche Bewegungen links und rechts verschmelzen, Aktiv- und Passivsein in Balance miteinander treten und Wachbewusstsein und Unbewusstes zusammenkommen.

Das Vernetzen verschiedener Intelligenzbereiche

Mit zunehmender Komplexität des rhythmischen Geschehens ist das kognitive Verstehen überfordert. Im gleichzeitigen Wahrnehmen und Erleben der verschiedenen Rhythmen entsteht ein Zusammenwirken von Spüren, Hören, Bewegen und innerem Visualisieren. Der Entwicklung sensomotorischer Intelligenz sind kaum Grenzen gesetzt, sie lässt sich immer weiter verfeinern.

Diese intensive und bewusste Wahrnehmung des Körpers schult die Fähigkeit, auf unsere Intuition bzw. auf unsere natürlichen Signale zu hören. Auch das Denken hat in diesem Netzwerk von Intelligenzen einen Platz – allerdings nicht mehr den Vorsitz. Es ist integriert und gewinnt dadurch an Klarheit und Schärfe. Es hört auf, sich zwanghaft um die immer gleichen Themen zu drehen, und wird ruhig. Das fördert die eigene Präsenz.

Rhythmische Archetypen

Obwohl hier mit Rhythmus gearbeitet wird, braucht es keine musikalische Vorerfahrung, um daran teilzunehmen. Reinhard Flatischler, der Begründer der TaKeTiNa®-Methode, beobachtete auf Reisen in verschiedenen Kulturen der Erde, dass es rhythmische Archetypen gibt, die kulturübergreifend existieren und die Basis jedes Rhythmus bilden. Neben Elementen der Pulsation, dem Beat und dem Off-Beat, sind das die Zweiereinheit und die Dreiereinheit sowie die elementaren Halbierungs- und Drittelungsteile der Zwischenräume.

Diese Informationen stehen dem Menschen als inneres Wissen zur Verfügung und zeigen sich ebenso an einer schwingenden Saite wie in der Natur, wenn die Blüten von Pflanzen eine exakte Dreierteilung zusammen mit einer Fünferteilung verkörpern, oder an schwimmenden Fischen, deren Flossenbewegungen sich in ganzzahligen Proportionen miteinander koordinieren (s. Erich von Holst 1939).

Pulsation verbindet uns mit dem rhythmischen Getragensein, das wir schon pränatal im Mutterleib erfahren. Auf Rhythmusarchetypen reagieren alle Menschen ähnlich: Im direkten Erleben tauchen Gefühle von Vertrautheit, Sicherheit und Ursprünglichkeit auf.

Das soll Sie nun ermutigen, sich auf diese Übungen einzulassen – unabhängig davon, ob Sie sich bisher mit Rhythmus und Musik auseinandergesetzt haben. Heute geht es darum, einen Einblick in die gleichzeitige Wahrnehmung zu bekommen.

ÜBUNG

Die Entwicklung der gleichzeitigen Wahrnehmung gelingt anfangs am besten mit dem Körper selbst. Klopfen Sie bitte einmal mit der linken Hand auf Ihren Bauch, während Sie zugleich mit der rechten Hand eine kreisförmige Bewegung ausführen. Das wird Ihnen vermutlich leicht gelingen, denn die beiden Bewegungen sind einfach und bleiben unverändert, sodass ihr Verhältnis zueinander „erlernbar“ ist.

Heben Sie nun bitte im Sitzen den linken Fuß vom Boden und bewegen Sie ihn im Uhrzeigersinn über den Boden. Sobald der Kreis einigermaßen rund fließt, versuchen Sie bitte, mit der linken Hand eine Ziffer Sechs in die Luft zu zeichnen. Achten Sie darauf, ob es Ihnen gelingt, den Kreis im Uhrzeigersinn mit Ihrem Fuß unbeirrt weiterzuzeichnen.

Hier könnten eventuell erste Schwierigkeiten auftreten. Vielleicht kommen Sie beim Probieren zunächst durcheinander, da beide Bewegungen zugleich Ihre Aufmerksamkeit brauchen. Doch noch ist auch das ein einfaches Koordinationsspiel, das geübt werden kann, weil keine der beiden Bewegungen variiert.

Sobald aber Variation ins Spiel kommt, ist es mit dem herkömmlichen „Einlernen“ vorbei, denn mit dem Variieren kommt das Element des Unvorhersehbaren ins Spiel und damit etwas, das nicht linear erlernt werden kann. Ist jedoch die gleichzeitige Wahrnehmung geöffnet, gelingt der Lernprozess.

Um diese Übung zu machen, besuchen Sie: www.taketina.com/momentum. In diesem Video führen wir Sie allmählich in den erweiternden Zustand der gleichzeitigen Wahrnehmung ein.

Zum Weiterlesen:

Luce, Gay G. Körperrhythmen: Die Uhr in uns geht ganz genau. Hoffmann und Campe (1973)

Holst, Erich von. Die relative Koordination als Phänomen und als Methode zentralnervöser Funktionsanalyse. Ergebnisse der Physiologie 1939; 42: 228–306

Flatischler, Reinhard. Rhythm for Evolution: Das TaKeTiNa Rhythmusbuch. Schott (2006)

Flatischler, Reinhard. Taketina. Die heilsame Kraft rhythmischer Urbewegungen. Irisiana (2012)

Flatischler, Reinhard. Die vergessene Macht des Rhythmus. Synthesis (1990)

Zu den Personen:

Reinhard Flatischler wurde 1950 in Wien geboren und absolvierte ein Studium an der Musikuniversität Wien, bevor er jahrelang bei Meistertrommlern aller Kontinente studierte. 1970 begründete er die TaKeTiNa® Rhythmuspädagogik. Er ist wissenschaftlicher Beirat der Gesellschaft für Musik in Medizin und Komponist und Begründer der legendären Gruppe „MegaDrums“ und der beiden Orchestersuiten „Waves upon Waves“ und „Space beyond Space“. Gemeinsam mit seiner Frau und Musikpädagogin Anna-Maria Flatischler leitet er das TaKeTiNa Institut für Rhythmuspädagogik und Rhythmusforschung sowie weltweit Ausbildungen und Workshops.

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aus: momentum 2/2022
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Heilsame Kraft Rhythmus

Übung bei einem Workshop Foto: Ronny Barthel, ©TaKeTiNa® Institut

Rhythmustherapie

Reinhard Flatischler in Interaktion mit einer Gruppe Foto:
Ronny Barthel, ©TaKeTiNa® Institut